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Rezension Peter J. König: Europa gegen die Juden 1880 – 1945-Götz Aly- S. Fischer

Der Historiker und Journalist Götz Aly hat sich in seinem neuesten Buch, erschienen im S. Fischer Verlag erneut mit der Frage beschäftigt, wie es in Europa zu dem entmenschlichten Phänomen des Holocaust kommen konnte, wo dieses Europa doch über Jahrhunderte für einen Prozess der Kultivierung steht. 

Götz Aly hat bereits in mehreren lesenswerten Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden, aufgezeigt, welchen Diskriminierungen die Juden weltweit, aber ganz besonders in Europa ausgesetzt waren. Pogrome gegen Juden hat es zu allen Zeiten gegeben, massive Beschränkungen und Benachteiligungen und Verfolgungen, auf Grund der Tatsache, dass sie überall als Eindringlinge und gesellschaftliche "Schmarotzer" gesehen wurden ebenfalls. Das gesamte Mittelalter über waren Juden in ganz Europa ausgegrenzt, sie wurden gesellschaftlich geächtet, wirtschaftlich diskriminiert und immer wieder verfolgt und getötet. 

In dem hier vorliegenden Buch stellt und untersucht Götz Aly die Frage, warum hat sich der Verfolgungswahn gegenüber Menschen jüdischen Glaubens seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa so intensiviert, um schließlich dort zu enden, was die Nazis mit aller Perfektion durchgeführt haben, den Versuch der systematischen Ausrottung eines ganzen Volkes. 

Der Autor hat mit sehr viel Akribie den Zeitraum von 1880 bis 1945 unter die Lupe genommen, um anhand belegter Dokumentationen nachzuweisen, dass mit dem Aufbruch der bürgerlichen Gesellschaften in Europa zu Ende des 19. Jahrhunderts eine gravierende Zunahme von Pogromen und Vertreibungen in den meisten Ländern Europas mit einherging. Mit der industriellen Revolution begann der Wechsel von der Feudal-, hin zu einer Bürger-Gesellschaft, begleitet durch den Wechsel von einer Agrar-Struktur zu einer Vermassung in großen Städten und Ballungszentren. 

Vom einfachen Bauer und Landarbeiter ging die Entwicklung hin zu Arbeitern in Fabriken, Angestellten und selbstständigen Berufen, die oftmals neue Bildungschancen auch für nicht Privilegierte ermöglichten. Gleichzeitig entwickelte sich mit dem aufkommenden Bürgertum eine immer stärker werdende Nationalisierung, einhergehend mit Abschottung der einzelnen Länder untereinander. Diese starke Rivalität und der Machthunger in Europa führten zum Ersten Weltkrieg. Wurden die Juden schon zu diesem Zeitpunkt in allen Ländern bereits extrem unterdrückt, so erwiesen sie sich doch als loyale Untertanen, ob in Russland, in Deutschland oder allen anderen europäischen Staaten, indem sie als Soldaten für ihr Land in den Krieg zogen. 

Gedankt wurde es ihnen nicht, ganz im Gegenteil. Im Zuge des immer stärker werdenden Nationalismus versuchte man sie, als nicht zugehörig, aus den "Volkskörpern" zu eliminieren. Allgemein wurden sie als Angehörige eines fremden Volkes betrachtet, des jüdischen Volkes, das verstreut über die ganze Welt, vermeintlich die Herrschaft in den einzelnen Nationalstaaten übernehmen wollte, um schließlich in einer jüdischen Weltherrschaft zu enden. Das Mittel dazu wurde in dem höheren Bildungsgrad und damit verbunden die Dominanz bei den akademischen Berufen oder im schnelleren Aufstieg beim Militär ausgemacht.

Gerade in den östlichen Staaten war die Durchschnittsbevölkerung nicht in der Lage der aufstrebenden jüdischen Mittelschicht Paroli zu bieten. Sie war einfach intelligenter, fleißiger und zielstrebiger und hat deshalb nicht nur den weitaus größeren Anteil an Studierenden gestellt, die auch mit maximalem Erfolg und in kürzester Zeit ihr Studium beendet hat, um dann die führenden Positionen im Staat als Juristen, Ärzte, Journalisten, Verleger und Buchautoren einzunehmen. Auf diese Weise war es den Juden überhaupt gelungen, die vergangenen Jahrhunderte zu überleben.

Dies hat in der angestammten Bevölkerung zu massivem Hass, Neid und Aufruhr geführt. Gleichgültig in welchem Land in Europa, die Juden wurden angefeindet, mit erheblichen Benachteiligungen belegt, so etwa mit besonderen Gebühren zum Studium, wenn sie nicht gleich quotiert oder ausgeschlossen wurden. Händler, Handwerker und Selbständige hatten erhebliche Abgaben zu leisten, um so durch einen Wettbewerbsnachteil sie nach und nach aus ihren Geschäften zu drängen.

Wer nun glaubt, dies sei eine allein deutsche Vorgehensweise, der wird durch dieses Buch von Götz Aly eines Besseren belehrt. Selbst Frankreich, das Land, das sich Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, ließ sich von der ethnischen Nationalisierung hinreißen, um die Juden peu à peu zu unterdrücken und zu vertreiben.

In diese totale anti-jüdische Stimmung hinein kam es in Deutschland zu der Herrschaft der Nazis. Und dass Adolf Hitler die Juden in seiner Hetzschrift "Mein Kampf" als das alles bestimmende Übel in der Welt sah, das ausgerottet werden müsste, um die Zivilisation zu retten, hat schließlich den Ausschlag zum Holocaust bestimmt. Wenn auch nicht in allen Ländern die "Endlösung der Judenfrage" selbstständig umgesetzt wurde, Pogrome hat es ja bereits tausendfach in vielen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten gegeben, ganz besonders in Russland zum Ende der Zarenherrschaft. Wenn also diese europäischen Länder nicht die gesamte Vernichtung ihrer eigenen jüdischen Bevölkerung in die Hände genommen haben, so waren sie fast ohne Ausnahmen vor und während der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht bereit, die Juden zu vertreiben, ihr Vermögen sich einzuverleiben und als willige Helfer dafür zu sorgen, damit ihre gesamte jüdische Bevölkerung wenn möglich in die Deportationszüge nach Ausschwitz und Treblinka gepfercht und abtransportiert werden konnte.

Hier haben sich bis auf Schweden, Dänemark, Belgien und die Schweiz alle Europäer ausnahmslos beteiligt und schuldig gemacht.

Götz Aly hat in seinem Werk "Europa gegen die Juden" sehr eindeutig und unmissverständlich gezeigt, dass der Holocaust keine losgelöste Erfindung der Wannsee-Konferenz ist. Dort wurde die letztendliche Umsetzung der totalen Vernichtung der europäischen Juden beschlossen. Aber bereits seit vielen Jahrzehnten hat eine Diskriminierung und Vertreibung der Juden nahezu flächendeckend in Europa stattgefunden.

Für die Nazis war der Holocaust nur das logische Ende der Judenfrage, die sie auch mit deutscher Gründlichkeit zum Abschluss zu führen gedachten. Damit der Autor gar nicht erst in Verdacht gerät, krude Thesen aufzustellen, hat er sich strikt an belegbare Fakten gehalten, die seine geschichtliche Darstellung an Hand unzähliger Dokumente untermauert. Über den Holocaust ist vielfach geschrieben worden, Götz Aly zeigt hier ergänzend in welche gesamt-europäische antisemitische Stimmung der totale Judenmord eingebettet war und dass viele Länder ein großes Interesse hatten, die Juden aus ihren Staaten zu eliminieren. Die Gesamtlösung haben sie den Deutschen überlassen. Damit wollten sie dann offiziell nichts zu tun haben.

Das relativiert die Schuld der Deutschen allerdings nicht im geringsten und exkulpiert sie dementsprechend keineswegs. Ganz im Gegenteil, sie haben die tiefe antisemitische Haltung vieler europäischer Staaten und die besondere Situation des Krieges und der Besetzungen genutzt, um das grausamste Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu realisieren.

Sehr empfehlenswert

Peter J. König

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Europa gegen die Juden: 1880 - 1945